Warum ich die „Leitkultur“ ablehne.
Why I reject the concept of a „leading culture“. On a current debate about culture and politics in Austria.
„Wer unsere Art zu leben ablehnt, muss gehen!“ Die ÖVP Leitkultur knüpft direkt an Motive aus dem Austrofaschismus der 1930er Jahre an.
- Vertreibung
Ausgerechnet die „Kleine Zeitung“ aus Graz, eine Medienstimme, die unverdächtig ist als links-linkes Organ, fand die klarste Formulierung auf die seltsamen Medienkampagne der ÖVP zur Forderung nach einer österreichischen „Leitkultur“, als sie die ÖVP Forderung so zusammenfasste: „Die Identität Österreichs sei mehr als gesetzliche Grenzen.“
Ich bin kein Jurist, nur ein österreichischer Staatsbürger und Kind von österreichisch-staatsbürgerlichen Eltern. Okay, die Mutter war eine eingebürgerte Sudetendeutsche. Aber sonst bin ich ein echter Österreicher. Allerdings haben wir ein – mittlerweile volljähriges – Kind aus Rumänen adoptiert, das auf Basis eines Gerichtsbeschlusses des Bezirksgerichts in Timisoara, Rumänien, auf meinen Antrag hin, 1995 die österreichische Staatsbürgerschaft erlangte. Muss dieser österreichische Erwachsene jetzt Eide auf Österreich schwören? Welche?
Sehr geehrter Bundesvorsitzender der ÖVP, sehr geehrter Herr Bundeskanzler Nehammer, sehr geehrte Frau Verfassungsministerin Edtstadler, ich muss Sie fragen: Wer von uns „muss gehen“, wenn morgen er, sie oder ich „unsere Art zu leben ablehnt“? Also die „Art zu leben“ nach den Vorgaben Ihrer Partei, der ÖVP. Und auf welcher rechtlichen Basis stellen Sie sich vor, dass diese Vertreibung erfolgen sollte?
Denn es geht um „Vertreibung“, wenn im Slogan der ÖVP zur „Leitkultur“ dekretiert wird: „Wer unsere Art zu leben ablehnt, muss gehen!“
- Das gesunde Dorf gegen die Stadt ohne Werte
In den polemischen Anzeigen der ÖVP nimmt nicht nur die unverhohlene Drohung der Vertreibung („…muss gehen“) die politische Katastrophen-Dynamik der 1930er Jahre in Österreich auf.
„Brauchtum“ wird als zentraler Faktor in der ÖVP Kampagne in Bild und Text gesetzt. Die Bilderwelt in den Anzeigen und Social Media Schaltungen der ÖVP verweist auf ein alpines – west-österreichisches – Österreich. Auch nach ein paar Korrekturen in visuellen und typografischen Details wird ultimativ gefordert: „Integration durch Anpassung. Das gehört für uns zur Leitkultur“.
Geboren und aufgewachsen in Graz, und seit meinem Zivildienst in den 1980er Jahren im Flüchtlingslager in Traiskirchen in Wien lebend, bin ich über diese Zuweisungen persönlich entsetzt.
Mein ‚Zivi‘-Job war es damals, Flüchtlinge überwiegend aus Polen nach dem Jaruzelski Putsch gegen die katholische Arbeiterbewegung Solidarnosc für deren Visa Anträge zu den Botschaften von ‚Einwanderungsländern‘ zu bringen, also Kanada, Australien oder Südafrika. Denn es hieß damals: „Diese Polen sind viel zu katholisch, um sich in Österreich zu integrieren!“ Offenbar sind die heutigen Immigranten nicht katholisch genug für unser Land. Dies ist eine seltsam verdrehte Logik.
Ich bin natürlich nicht ernsthaft besorgt, dass ich selbst bald aus Österreich ausgewiesen werde. Doch spielt diese völlig unnötige Provokations-Kampagne der ÖVP mit einem weiteren, zentralen Motiv aus den prä-faschistischen 1930er Jahren: Sie suggeriert die radikale Unvereinbarkeit des Lebens und der Werte zwischen Stadt und Land.
Diese 100 Jahre alte, zerstörerische Gegenüberstellung von Stadt und Land trug in absurd ins Heute aktualisierten Formen bereits massiv bei zur destruktiven Polarisierung der Politik in unserer Nachbarschaft, insbesondere in Polen, in der Slowakei und in Ungarn.
Ist dies eine zukunftsträchtige Perspektive für Österreich?
- Das Gesetz
Je genauer ich mir diese unsäglichen „Leitkultur“ Manöver der ÖVP ansehe, desto deutlicher sehe ich darin taktische Vorbereitungen, um nach den im Herbst 2024 anstehenden Nationalratswahlen in Österreich möglichst einfach ‚rüber zu rutschen‘, als Junior-Partner in eine FPÖ Regierung unter Herbert Kickl, oder mit irgendeiner Schattenkonstruktion, in der Kickl und dessen Parteigenossen die Linie vorgeben.
Die Erste Republik hat Österreich mit solchen Aktionen des ‚rüber Rutschens‘ ins Autoritäre großes Unheil gebracht. Das wollen wir nicht wiederholen.
Die stärkste Verteidigungslinie gegen ein solches Abrutschen wurde, mit deutlichen Worten, und ebenfalls bereits in der Zwischenkriegszeit, von Hans Kelsen in den Grundlagen der österreichischen Bundesverfassung formuliert. Mit den Prinzipien der Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger vor dem Gesetz, Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Grundlagen für die Bestellung der höchsten Organe im Staat haben wir ein immer noch gut tragfähiges Fundament für unser Zusammenleben in Österreich, welches keiner Beschwurbelungen von „Identität“ oder anderer diffuser Deklarationen bedarf.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ich sehe nicht, wie Beschwörungen von regional sehr unterschiedlichem Brauchtum oder Drohungen mit Vertreibungen und Abschiebungen hier starke Hilfsmittel für die Bewältigung unserer heutigen Herausforderungen und für die Zukunft von Österreich in Europa erbringen würden.
Kurzum, lassen wir die Beschwörungen. Arbeiten wir, ganz praktisch, und gemeinsam mit allen, die hier leben, für eine gute Zukunft für dieses Land.