Nachruf Mike Shatzkin (1947 – 2024)

Große Fragen, präzise Antworten.

Portrait Mike Shatzkin. Photo: Private.

Mike Shatzkin hatte keine Scheu, große Fragen aufzuwerfen. Bei den Antworten aber gab er sich niemals mit schick klingenden, doch nicht präzise untermauerten wie auch bis ins Detail recherchierten Antworten zufrieden. In einem Essay über die „Paradoxien kultureller Märkte“ etwa, den ich 2002 schrieb, bedankte ich mich aufrichtig für seinen „lively scepticism“, den ich von ihm dankbar aufnahm, als ich für meine Argumente um seinen Rat fragte.

Bereits ein Jahr zuvor hatten wir zur Frankfurter Buchmesse gemeinsam eine Konferenz organisiert, in der es um die noch recht experimentellen Konzepte rund um den Begriff „Ebook“ gehen sollte. Gleich im ersten, vorbereitenden Gespräch schlug Mike als Titel vor: „Frankfurt Big Questions“. Denn, so führte er lakonisch aus, „book publishing is a business that requires looking well into the future.”

Mir wird heute noch leicht schwindlig, wenn ich an dieses Gespräch zurückdenke. Wie wollen wir diesem Anspruch auch nur einigermaßen gerecht werden, fragte ich mich. Wenig später las ich auf Mikes Blog allerdings eine überaus präzise Anleitung:

Publishers in 2001 face uncertainty every time they sign up for a book, but even more so when they make infrastructure investments. How much effort should go into digital content and rights management? How much investment should go into developing new delivery forms and channels? Is this exactly the wrong time to invest in more warehouse space, or exactly the right time to invest in print-on-demand capability in the warehouse?

Heute, 23 Jahre später, würde ich keine Minute zögern, diese Fragen, Wort für Wort, in die Präsentation einer aktuellen Fachtagung zu schreiben.

Unsere Konferenz fand im Oktober 2001 auf der Buchmesse statt, genau wie geplant, mit brillanten Referentinnen und Referenten aus Startup Unternehmen, die es allerdings oft wenige Monate oder ein Jahr später nicht mehr gab. Gerade einen Monat vor unserer Konferenz, am 9. September, lenkten arabische Terroristen ein entführtes Flugzeug ins World Trade Center in New York – was die Frankfurter Buchmesse mit gut 1000 US-Ausstellern in eine Schockstarre versetzte. Und das Platzen der sogenannten „Dot-Com Blase“ im Sommer 2000 interpretierten viele gerade auch im Buch- und Verlagsgeschäft als ein Aus für diese digitalen Phantasien.

Mike Shatzkin hatte einen sehr viel klareren Blick. Nur wenige Jahre später erzählte er mir, wie er sich nun durch die Vertriebszahlen einer großen US-Buchhandelskette arbeitete, um deren Management deutlich zu machen, was sie aus diesen Zahlen lernen und in praktische Maßnahmen für bessere Planung beim Einkauf von Titeln und für die Präsentation in den Buchhandlungen ableiten können.

Wenn er von solchen innovativen Ansätzen sprach, vergaß er niemals, gleich auf seinen Vater Leonard Shatzkin zu verweisen, von dem er diese extrem pragmatischen, anwendungs-orientierten Zugänge im Buchgeschäft gelernt habe.

Mit diesen Eigenarten bleibt Mike der wie aus einem Bilderbuch ins Leben heraus getretene ‚character‘ eines Romans, der an der New Yorker Upper East Side angesiedelt ist. Als begeisterter Läufer (und Konsument von Zero Pepsi als Basis-Elixier) absolvierte er seine Joggingrunden entlang genau abgesteckter Runden um Häuserblöcke seines Reviers. Und noch wenige Wochen vor seinem Tod, als er doch noch aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen wurde, feierte er die Rückkehr in die Heimat mit minutiösen Berichten, wie weit er es gleich zu Fuß bis zu diesem oder jenem Laden geschafft habe.

Wie sehr wir – wir vielen, die Mike kannten und von ihm lernten – ihn schon jetzt vermissen, das wird in den zahllosen Posts auf seiner Facebook-Seite mehr als deutlich. Doch zum Glück hinterlässt uns Mike, in Gestalt seines über Jahrzehnte geführten Blogs der „Shatzkin Files“ auf Idealog.com (einem wunderbaren Wortspiel auf seine Arbeitsweise) eine Schatzkiste, die wir weiterhin nur erforschen müssen, um die Verbindung mit Mike Shatzkin lebendig zu halten.

Foto: Privat.

Dieser Nachruf erschien zuerst auf Langendorfs Dienst.

Die Suhrkamp Krise

Kontext und Perspektiven für das Geschäft mit Büchern.

Suhrkamp Insel Logo

Worum geht es beim abrupten Eigentümer Wechsel im Suhrkamp Verlag?
Wie überraschend kam die Erschütterung?
Was bedeutet dies für das Buch- und Verlagsgeschäft insgesamt?

(English version here)

Der Schock saß. Suhrkamp, also jener Verlag, der die deutschsprachige Kulturlandschaft wie keine andere Einrichtung über Jahrzehnte geprägt hat, wird von einem ehemaligen Baumarkt Manager übernommen. Die Familie, die bislang die Mehrheit an dem Buch-Unternehmen hielt, musste erst unlängst die Villa des ikonischen Verlegers Siegfried Unseld verkaufen, ausgerechnet kurz vor dessen 100. Geburtstag, um sich nun völlig zurückzuziehen.

  1. Suhrkamp und der deutsche Buchmarkt: Eine Einschätzung in Zahlen

So richtig überraschend aber ist diese Entwicklung nicht, zumindest, wenn man die Vorgeschichte und das Umfeld etwas genauer betrachtet.

Unter den 100 größten Verlagen in Deutschland, Österreich und der Schweiz lag Suhrkamp mit einem Umsatz von 35,4 Millionen Euro auf Platz 46 – und damit deutlich hinter anderen wichtigen Kulturverlagen wie Rowohlt (25), S. Fischer (27), Ullstein (34) oder Carl Hanser (Platz 41 – zu dem auch der Wiener Zsolnay Verlag gehört).

Unter den 10 umsatzstärksten Belletristik Autoren von Suhrkamp im Jahrzehnt von 2011 bis 2020 finden sich gerade zwei Namen lebender deutschsprachiger Schriftsteller – nämlich der Österreicher Robert Menasse (auf Platz 6) und Lutz Seiler aus Deutschland (auf Platz 8). Weitere Spitzenplätze gehen an Elena Ferrante (1), Hermann Hesse (2), Isabel Allende (3), Max Frisch (4) oder Bertold Brecht (9). (Analyse rw, auf Basis von Daten von Media Control)

Zwar gibt es keine veröffentlichten Daten zu Gewinnen oder Verlusten des Verlagsunternehmens. Der Umsatz aber ist seit einem Dutzend Jahren mit geringfügigen Schwankungen um die 35 Millionen Euro konstant geblieben – was jedoch, sobald die Inflation eingerechnet wird, einem Wertverlust von rund einem Fünftel entspricht.

Rund die Hälfte aller Umsätze wird mit vergleichsweise teuren gebundenen Ausgaben erzielt. Digitale Ausgaben (also e-Books und Hörbücher) sowie der Verkauf von Lizenz-Rechten tragen gerade einmal 15 Prozent zum Umsatz bei Suhrkamp bei. (Diese Daten hatte das deutsche Fachmagazin Buchreport zuletzt für das Geschäftsjahr 2022 von Suhrkamp eingeholt und veröffentlicht.)

Gewiss drängt sich nun die Frage auf: Womit soll ein Verlag sonst Geld verdienen, wenn nicht mit dem Verkauf gebundener Erstausgaben sowie von kostengünstigen Taschenbüchern, welche bei Suhrkamp rund ein Drittel des Umsatzes beisteuern?

Zum Ersten ein Blick in die deutsche Buchbranche im Bogen der vergangenen rund 15 Jahre:

In den meisten publizierten Branchen-Statistiken wird mit Stolz herausgestrichen, wie ‚resilient‘ – also stabil und robust – das Geschäft mit Büchern sei. Dabei werden Umsatzzahlen aufgeführt, die einigermaßen stabil sind. Dies gilt jedoch nur, solange man die Auswirkungen von Inflation ignoriert. Zwischen 2019 – dem Jahr vor der Covid19 Pandemie – und 2023 errechnet sich so ein Umsatz-Plus des Buchmarktes von 1,6 Prozent. Im gleichen Zeitraum aber gab es eine in dieser Rechnung nicht berücksichtigte Inflation um 16,9 Prozent. Real betrachtet ist der Buchmarkt in Deutschland also ganz erheblich geschrumpft. Die Zahl der an Kunden abgesetzten Bücher – also die Stückzahl – nahm in dieser Zeitspannen zwischen 2019 und 2023 um 8,4 Prozent ab. (Berechnungen auf Basis von Statistiken des Börsenvereins des deutschen Buchhandels)

Noch deutlich drastischer ist der Langzeit Vergleich. Eine Auswertung der verkauften Stückzahlen von 2011 bis 2020 zeigt, dass dieser Wert vor allem im Segment jener Titel gedruckter Bücher, die besonders erfolgreich und deshalb wirtschaftlich für die Verlage besonders bedeutend sind, seit mehr als einem Jahrzehnt linear und gleichmäßig nach unten geht. Selbst die Pandemie hat in diesem Langzeit Trend so gut wie keine Spuren hinterlassen. (Analyse rw, auf Basis von Daten von Media Control)

Dies bedeutet, dass die durchschnittliche verkaufte Auflage pro Titel kontinuierlich gesunken ist. Gerade in den letzten 5 Jahren aber sind die Kosten für Verlage – insbesondere bei Papier, Druck und Infrastruktur – deutlich gestiegen. Ausgeglichen wurde diese bedrohliche Lücke durch Preissteigerungen der Ladenpreise von Büchern. In einer insgesamt angespannten Konjunkturentwicklung aber werden alle Konsumenten zunehmend kostenbewusst, und streichen bestimmte Einkäufe. Offenbar zählen hier auch Bücher dazu.

Dies merkten vor allem die ‚stationären‘ – also herkömmlichen – Buchhandlungen, deren Umsätze zwischen 2019 bis 2023 um 14,5 % zurückgegangen sind. Die mit Abstand größte Buchhandels-Kette Thalia aber hat eher noch weiter zugelegt. Deshalb traf diese sehr nachhaltige Verschiebung zuallererst kleine unabhängige Buchhandlungen und kleinere lokale Ketten.

Zur Entwicklung von Amazon gibt es keine aussagekräftigen Zahlen. Aber für einen Rückgang der Rolle von Amazon gibt es keine Anzeichen. Dies umso weniger, als sich deutlich verfolgen lässt, wie insbesondere das digitale Buchgeschäft – insbesondere abseits des Online Kaufs gedruckter Bücher – bei Amazon kräftig expandiert.

Dieses „digitale Geschäft“ ist ein immer vielfältigerer Mix aus Self-Publishing von Autoren, die sich der Dienste von „KDP“ („Kindle Direct Publishing“) bedienen, und von KonsumentInnen, die ebenfalls immer stärker Abo-Angebote wie Kindle Unlimited oder verschiedene Abos von Amazons Hörbuch-Arm Audible für bestimmte Teile ihres Konsums von Büchern nutzen.

Kurzum, das von Suhrkamp lange Zeit so souverän und als ‚Platzhirsch‘ bespielte Revier des traditionellen Buchgeschäfts als jener Verlag, der durch seine Marktstellung und kulturelle Reputation für das in der symbolischen Wertigkeit seiner AutorInnen und deren Bücher ‚höchstwertige‘ Angebot punkten kann – steht unter massivem Veränderungsdruck.

  1. Gibt es Alternativen?

In dieser ‚Neuen Welt‘ der Bücher – egal welchen Formats, egal welchen Zuschnitts – seine Rolle zu finden und nachhaltig erfolgreich zu gestalten, das ist eine komplexe Herausforderung.

Nun, um ein bewusst etwas extrem gewähltes Gegenbeispiel zu nehmen: Dem mit internen Geschäftskrisen ebenfalls gut vertrauten Verlag Bastei Lübbe gelingt dieses Kunststück im Augenblick gerade recht gut.

Bei Bastei Lübbe verteilen sich aktuell die Einnahmen vergleichsweise gleichmäßig zwischen gedruckten Büchern und E-Books, Hörbüchern und anderen Angeboten auf allerlei ‚Lesefutter‘ – denn natürlich geht es da weitgehend nicht um hohe Literatur oder komplexe Gesellschaftsanalysen.

Der als Heftchen-Verlag 1949 gegründete Verlag – Suhrkamp ging nur ein Jahr später, 1950, an den Start – ist heute vergleichsweise extrem breit aufgestellt, zwischen internationalen Bestseller Stars wie Ken Follett über LYX, eine von „Influencern“ via Tik Tok angetriebene Spezial-Abteilung für Liebesromane – also einer heutigen, digitalen Version der früheren Heftchen, die es aber auch noch nebenher gibt – bis zu einem Misch-Betrieb wie den Community Editions, welche sich an der Schnittstelle zu Computerspielen und allen möglichen Spielarten digitaler Unterhaltung positionieren.

Diese, wie gesagt bewusst extrem gesetzte Kontrastierung zwischen der zu seinen Hochzeiten genialisch von Siegfried Unseld in Szene gesetzten „Suhrkamp Kultur“ auf der einen Seite, und dem bunten Trash Mix auf der anderen, illustriert allerdings einen sehr ernsthaften Umbruch, dem sich die Buch- und Verlagsunternehmen heute insgesamt stellen müssen:

Allein mit Büchern für eine schmale Zielgruppe aus gebildeter, urbaner, deutschsprachiger höherer Mittelschicht ein stabiles kulturelles Unternehmen aufzubauen, das ist ein sehr wackeliges Konzept.

Die Ursache dahinter liegt allerdings nicht daran – wie gerne beklagt wird -, dass insbesondere „die Jungen nicht mehr lesen, sondern nur aufs Handy starren“.

Vielmehr sind unsere Gesellschaften seit den 1960er und 1970er Jahren deutlich vielfältiger und komplexer geworden.

  1. Wie sehr haben sich Gesellschaft und das Zielpublikum für Bücher verändert?

Unsere Gesellschaften sind deutlich vielfältiger geworden.

Die verschiedensten Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund – unter ihnen auch eine erhebliche Anzahl von gebildeten Menschen, von denen etliche bereits hier geboren, aufgewachsen und sozialisiert worden sind – kommen im Angebot aus Verlagen und Buchhandel so gut wir nicht vor.

Aber auch die allgemeine Medienkultur und deren Angebote sind viel kleinteiliger und breiter geworden.

Der Tik Tok Boom unter Jugendlichen stellt hier die bislang einzige Ausnahme dar, wo die Buchbranche nun gemerkt hat, wie gut sich mit Hashtags wir #booktok gerade auch wieder gedruckte, besonders schön gestaltete Bücher vermitteln und verkaufen lassen.

Allein, die Vielzahl der digitalen Plattformen ist sehr viel bunter als nur Tik Tok. Der Boom bei Hörbüchern mach dies deutlich – und erst allmählich begreifen wir auch, dass diese neuen, durchwegs digital produzierten und vertriebenen Hörbücher vielfach im Kombipack mit anderen Inhalten, im Abonnement und nicht vorwiegend per Kauf des einzelnen Titels verbreitet werden.

Aber natürlich gibt es auch hier wieder die bewusst und radikal unangepasste Option als Geschäftsmodell: Sich dem zu entziehen, ja zu widersetzen und ganz bewusst auf klare Kante und Linie zu setzen und zu sagen: Ich mache nur hochwertige Literatur, Kultur und Wissenschaft. Punktum!

Aber gerade da ist es essenziell, sich sehr modern und zeitgemäß aufzustellen bei Konzeption, Produktion, internen Workflows, bis hin zum Vertrieb und der perfekten Ansprache der sehr präzise definierten Zielgruppen, und dies mit allen Mitteln, welche die heutigen – überwiegend digitalen – Kommunikationsmittel ermöglichen.

Ein solches Beispiel ist – nicht ganz zufällig wohl – der britische Verlag Bloomsbury. Ja genau, jener Verlag, der 1997 Harry Potter in die Welt setzte, nachdem Dutzende andere Verlage das erste Manuskript von J.K. Rowling abgelehnt hatten.

Harry Potter trägt immer noch zum anhaltenden Erfolg und Wachstum bei Bloomsbury bei – aber nicht allein, und nicht durch Zauberei. Vielmehr recht pragmatisch, aber auch selbstbewusst formuliert es Verlagsgründer Nigel Newton:

“This dramatic increase arises from our entrepreneurial diversification strategy, which has forged a portfolio of portfolios combining consumer and academic publishing across formats, territories and subject areas, a resilient model delivering long-term success.” (The Bookseller, 23 May 2024)

Auch hier wird ein klares Gegen-Programm zur bisherigen Strategie bei Suhrkamp auf den Punkt gebracht. Denn allein Beharrung auf einem großartigen Bestand kann in Zeiten tiefer Veränderungen nur zur Erstarrung führen.

  1. Wie geht es weiter?

In den bislang an Fakten etwas kargen Meldungen zum anstehenden Wechsel zwischen der Familie Unseld-Berkéwicz und dem neuen 100 Prozent Eigentümer Dirk Möhrle sind wenigstens zwei Details auffällig:

Für das Jahr 2022 wird ein „Jahresfehlbetrag von 270.000 Euro“ vermeldet. Nun, für ein Unternehmen mit einem Jahresumsatz von 35,4 Millionen Euro bedeutet dies ein Minus von weniger als einem Prozent.

Derlei allein ist nicht existenzbedrohend. Weshalb aber dann die ganze Aufregung?

Zum zweiten wird vermeldet, dass der neue Eigentümer sofort dem aktuellen Geschäftsführer des Verlags, Jonathan Landgrebe, sein Vertrauen aussprach. Landgrebe ist seit 2008 Mitglied der Geschäftsführung des Verlags und seit dessen Umgestaltung in eine (private, nicht börsennotierte) Aktiengesellschaft deren alleiniger Vorstand.

Ähnlich Unseld, wenn auch ohne dessen Selbstdarstellung, betrachtet sich Landgrebe deutlich als ‚Kaufmann‘, wie ihm auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung bereits bescheinigte. (FAZ, 21Jan2015)

Wenn ich versuche hier zwischen den Zeilen zu lesen, dann scheint es da hinter den familiären und den Vorstands-Kulissen schon eine Weile lang ordentlich gekracht zu haben. Die Strategie für die Ausrichtung angesichts der oben beschriebenen Verwerfungen am ‚Buchmarkt‘ könnte da ein wirkungsmächtiges Thema gewesen sein.

Wenn ich vor diesem Hintergrund über mögliche Zukunftsszenarien zu spekulieren versuche – im Bewusstsein, sehr leicht völlig danebenzuliegen – dann fallen mir mehrere sehr unterschiedliche Varianten ein, wobei ich allerdings mangels persönlicher Kenntnis der Person ganz bewusst nicht spekuliere, welche genauen Pläne, oder welche Rolle, der angekündigte neue Eigentümer Dirk Möhrle darin einnehmen wird:

  • Übernahme durch einen der in Deutschland präsenten Verlags-Konzerne, also Bertelsmann via Penguin Random House, oder Bonnier oder Holtzbrinck: Sehr unwahrscheinlich, auch unabhängig von Wettbewerbs-relevanten Einschätzungen, weil die kulturelle Struktur von Suhrkamp und dessen Autorinnen und Autoren da genau nicht hineinpasst;
  • Übernahme durch einen ‚benevolant billionaire‘, also – ähnlich wie in Frankreich bei der Übernahme der zweitgrößten Verlagsgruppe Editis durch den tschechischen Milliardär Daniel Křetínský, wo allerdings gerade ein heftiger Arbeitskampf, inklusive Streik, ausgebrochen ist: Natürlich möglich, aber mit wenigen Vorbildern in Deutschland;
  • Übernahme durch „Private Equity“, um – nach dem Modell der jüngsten Übernahme des New Yorker Traditionsverlags Simon and Schuster durch KKR Private Equity – das beträchtliche, sehr wertvolle Potenzial an Rechten und deren zeitgemäßen Verwertungen nach allen Richtungen zu entwickeln und dann kommerziell auszuschöpfen: Eine recht plausible Variante.
  • Einfache Weiterführung durch den neuen Eigentümer, im alten Konzept? So gut wie ausgeschlossen.

Nur eines ist klar: Die Entwicklungen rund um Suhrkamp bleiben spannend – und auch weiterhin wegweisend für das Buch- und Verlagsgeschehen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Interessiert an einer internationalen Perpsektive auf die aktuellen Umbrüchen im Verlagsgeschäft? Das Global 50 Publishing Ranking bietet einen Überblick mit einem Ranking führender Verlagskonzerne weltweit, eine Analyse und Firmenprofile mit Finanzdaten und Details zur Geschäftsentwicklung auf 220 Seiten. Um nur 50 Euro. >> www.wischenbart.com/ranking 

Warum ich die „Leitkultur“ ablehne.

Why I reject the concept of a „leading culture“. On a current debate about culture and politics in Austria.

An iconic image of 'Austrian culture' as seen through AI

„Wer unsere Art zu leben ablehnt, muss gehen!“ Die ÖVP Leitkultur knüpft direkt an Motive aus dem Austrofaschismus der 1930er Jahre an.

  1. Vertreibung

Ausgerechnet die „Kleine Zeitung“ aus Graz, eine Medienstimme, die unverdächtig ist als links-linkes Organ, fand die klarste Formulierung auf die seltsamen Medienkampagne der ÖVP zur Forderung nach einer österreichischen „Leitkultur“, als sie die ÖVP Forderung so zusammenfasste: „Die Identität Österreichs sei mehr als gesetzliche Grenzen.“

Ich bin kein Jurist, nur ein österreichischer Staatsbürger und Kind von österreichisch-staatsbürgerlichen Eltern. Okay, die Mutter war eine eingebürgerte Sudetendeutsche. Aber sonst bin ich ein echter Österreicher. Allerdings haben wir ein – mittlerweile volljähriges – Kind aus Rumänen adoptiert, das auf Basis eines Gerichtsbeschlusses des Bezirksgerichts in Timisoara, Rumänien, auf meinen Antrag hin, 1995 die österreichische Staatsbürgerschaft erlangte. Muss dieser österreichische Erwachsene jetzt Eide auf Österreich schwören? Welche?

Sehr geehrter Bundesvorsitzender der ÖVP, sehr geehrter Herr Bundeskanzler Nehammer, sehr geehrte Frau Verfassungsministerin Edtstadler, ich muss Sie fragen: Wer von unsmuss gehen“, wenn morgen er, sie oder ich „unsere Art zu leben ablehnt“? Also die „Art zu leben“ nach den Vorgaben Ihrer Partei, der ÖVP. Und auf welcher rechtlichen Basis stellen Sie sich vor, dass diese Vertreibung erfolgen sollte?

Denn es geht um „Vertreibung“, wenn im Slogan der ÖVP zur „Leitkultur“ dekretiert wird: „Wer unsere Art zu leben ablehnt, muss gehen!

  1. Das gesunde Dorf gegen die Stadt ohne Werte

In den polemischen Anzeigen der ÖVP nimmt nicht nur die unverhohlene Drohung der Vertreibung („…muss gehen“) die politische Katastrophen-Dynamik der 1930er Jahre in Österreich auf.

„Brauchtum“ wird als zentraler Faktor in der ÖVP Kampagne in Bild und Text gesetzt. Die Bilderwelt in den Anzeigen und Social Media Schaltungen der ÖVP verweist auf ein alpines – west-österreichisches – Österreich. Auch nach ein paar Korrekturen in visuellen und typografischen Details wird ultimativ gefordert: „Integration durch Anpassung. Das gehört für uns zur Leitkultur“.

Geboren und aufgewachsen in Graz, und seit meinem Zivildienst in den 1980er Jahren im Flüchtlingslager in Traiskirchen in Wien lebend, bin ich über diese Zuweisungen persönlich entsetzt.

Mein ‚Zivi‘-Job war es damals, Flüchtlinge überwiegend aus Polen nach dem Jaruzelski Putsch gegen die katholische Arbeiterbewegung Solidarnosc für deren Visa Anträge zu den Botschaften von ‚Einwanderungsländern‘ zu bringen, also Kanada, Australien oder Südafrika. Denn es hieß damals: „Diese Polen sind viel zu katholisch, um sich in Österreich zu integrieren!“ Offenbar sind die heutigen Immigranten nicht katholisch genug für unser Land. Dies ist eine seltsam verdrehte Logik.

Ich bin natürlich nicht ernsthaft besorgt, dass ich selbst bald aus Österreich ausgewiesen werde. Doch spielt diese völlig unnötige Provokations-Kampagne der ÖVP mit einem weiteren, zentralen Motiv aus den prä-faschistischen 1930er Jahren: Sie suggeriert die radikale Unvereinbarkeit des Lebens und der Werte zwischen Stadt und Land.

Diese 100 Jahre alte, zerstörerische Gegenüberstellung von Stadt und Land trug in absurd ins Heute aktualisierten Formen bereits massiv bei zur destruktiven Polarisierung der Politik in unserer Nachbarschaft, insbesondere in Polen, in der Slowakei und in Ungarn.

Ist dies eine zukunftsträchtige Perspektive für Österreich?

  1. Das Gesetz

Je genauer ich mir diese unsäglichen „Leitkultur“ Manöver der ÖVP ansehe, desto deutlicher sehe ich darin taktische Vorbereitungen, um nach den im Herbst 2024 anstehenden Nationalratswahlen in Österreich möglichst einfach ‚rüber zu rutschen‘, als Junior-Partner in eine FPÖ Regierung unter Herbert Kickl, oder mit irgendeiner Schattenkonstruktion, in der Kickl und dessen Parteigenossen die Linie vorgeben.

Die Erste Republik hat Österreich mit solchen Aktionen des ‚rüber Rutschens‘ ins Autoritäre großes Unheil gebracht. Das wollen wir nicht wiederholen.

Die stärkste Verteidigungslinie gegen ein solches Abrutschen wurde, mit deutlichen Worten, und ebenfalls bereits in der Zwischenkriegszeit, von Hans Kelsen in den Grundlagen der österreichischen Bundesverfassung formuliert. Mit den Prinzipien der Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger vor dem Gesetz, Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Grundlagen für die Bestellung der höchsten Organe im Staat haben wir ein immer noch gut tragfähiges Fundament für unser Zusammenleben in Österreich, welches keiner Beschwurbelungen von „Identität“ oder anderer diffuser Deklarationen bedarf.

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ich sehe nicht, wie Beschwörungen von regional sehr unterschiedlichem Brauchtum oder Drohungen mit Vertreibungen und Abschiebungen hier starke Hilfsmittel für die Bewältigung unserer heutigen Herausforderungen und für die Zukunft von Österreich in Europa erbringen würden.

Kurzum, lassen wir die Beschwörungen. Arbeiten wir, ganz praktisch, und gemeinsam mit allen, die hier leben, für eine gute Zukunft für dieses Land.

Receive the latest news

Subscribe To Our Newsletter

Get notified about new reports, blogposts and events